– Christian Hoffmann –

Im Jahr 1997 wurde erstmals über HIV-Patienten berichtet, bei denen sich wenige Wochen nach Beginn einer ART ungewöhnliche CMV-Retinitiden (Jacobsen 1997) bzw. abszedierende MAC-Infektionen (Race 1998) manifestiert hatten. So unterschiedlich Erreger und Lokalisation auch waren – gemein waren diesen Krankheitsbildern eine ausgeprägte inflammatorische Komponente und eine Immunrekonstitution. Schon früh wurde daher ein Syndrom postuliert, bei dem eine bereits vor Therapiebeginn latent bestehende Infektion oder Erkrankung durch das sich restaurierende Immunsystem suffizienter bekämpft wird (Übersicht: French 2009).

Dieses “Immunrekonstitutionssyndrom“ (die Abkürzung IRIS steht für „Immune Reconstitution Inflammatory Syndrome“) ist einem kürzlich gefundenen Konsens zufolge definiert ist als eine Verschlechterung eines infektiösen oder inflammatorischen Geschehens, dass in zeitlichem Zusammenhang mit einem ART-Beginn steht (http://www.inshi.umn.edu/). Als Response-Kriterium wird ein Viruslastabfall von mindestens einer Logstufe gefordert, und die Symptome dürfen nicht durch einen erwarteten Verlauf einer bestehenden Infektion, durch Nebenwirkungen, Therapieversagen oder Non-Adhärenz erklärbar sein.

Zu unterscheiden sind subklinische Infektionen, die unter ART demaskiert werden („unmasking IRIS“), von bereits zu ART-Beginn klinisch evidenten Infektionen, die sich unter Therapie paradoxerweise verschlechtern („paradoxical IRIS“). Darüber hinaus muss ein IRIS nicht unbedingt durch eine opportunistische Infektion bedingt sein – das Spektrum umfasst neben unspezifischen Symptomen auch autoimmune Erkrankungen und Malignome.

So ist das IRIS in vielen Publikationen heute oft ein Panoptikum skurriler, bisweilen grotesker Fallberichte, denen eigentlich nur eins gemeinsam ist: dass es zu unerwarteten, klinisch meist beeindruckenden Problemen unter einer neu begonnenen, wirksamen ART kam. Beim IRIS gelten dennoch drei Regeln:

1. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

2. Nichts ist mehr so wie früher. Klinik und Radiologie sind „untypisch“.

3. Ein IRIS bedeutet nicht, dass die ART versagt hat. Die Prognose ist meist gut.

Wie häufig treten Immunrekonstitutionssyndrome auf? Mangels Definition schwanken die Angaben erheblich. Wir halten angesichts unserer eigenen Erfahrung bei Patienten mit weniger als 200 CD4-Zellen/µl eine Häufigkeit von 5-10 % für realistisch. Sehr niedrige CD4-Zellen, eine hohe Viruslast vor Therapiestart und ein rascher Abfall unter ART scheinen Prädiktoren für ein IRIS zu sein. Wenn nur die Patienten berücksichtigt werden, die bereits vor ART-Beginn mit Mykobakterien oder Kryptokokken infiziert waren, werden IRIS-Raten von 30 % und mehr beobachtet (Müller 2010).

Mykobakterielle IRIS: Für MAC übersteigt die Zahl publizierter Fälle mit fistelnden Lymphadenitiden, kutanen oder muskulären Abszessen, Osteomyelitiden, Nephritiden oder Meningitiden den zitierbaren Rahmen. Wir selber sahen bei insgesamt 83 Patienten, die bei weniger als 200 CD4-Zellen/µl mit ART begannen, in den ersten Wochen nach Therapiebeginn 6 Mykobakteriosen, darunter 4 MAC-Infektionen (Hoffmann 1999). Die Lymphknoten-Abszesse treten meist in den ersten Wochen auf. Es muss nicht immer avium sein: Auch IRIS-Fälle mit Mycobacterium xenopi oder kansasii wurden beschrieben (Chen 2004, Phillips 2005).

Zur Tuberkulose existieren ebenfalls zahlreiche Berichte (John 1998, Chien 1998), die an die seit den 50er Jahren bekannten „paradoxen“ Reaktionen bei der TB-Therapie erinnern. Gemein ist diesen Patienten, dass sie sich klinisch unter suffizienter Tuberkulostase und ART-vermittelter Immunrekonstitution zunächst drastisch verschlechtern. Meningitiden, zum Teil aber auch exorbitante Lymphknotenschwellungen mit oft unspezifischer Histologie komplizieren den Verlauf, um dann erstaunlich rasch und gut auf Steroide anzusprechen. Die Gabe von Prednisolon hat sich in einer plazebokontrollierten Studie als sehr effektiv erwiesen (Meintjes 2010).

Bei ART-naiven Patienten kann ein früher (sofortiger) ART-Beginn ein IRIS provozieren. In mindestens zwei großen randomisierten Studien (STRIDE und SAPIT) war die IRIS-Rate erhöht, wenn bei bestehender TBC sofort mit ART begonnen wurde. Das erhöhte IRIS-Risiko führte allerdings in beiden Studien nicht zu einer erhöhten Mortalität (Abdool 2011, Havlir 2011). Dem steht eine randomisierte Studie entgegen, die bei der tuberkulösen Meningitis eher ungünstige Effekte durch eine sofortige ART ergab (Torok 2009).

CMV-IRIS: Neben den Mykobakteriosen wurden ebenfalls zahlreiche ungewöhnliche CMV-Fälle unter ART publiziert. Bei Patienten mit CMV-Retinitis ist in etwa einem Drittel der Fälle mit einem IRIS zu rechnen (Müller 2010). Die inflammatorische CMV-Retinitis mit visusbedrohender Vitritis, Papillitis und Makulaödem gilt heute als eigenständiges Syndrom und unterscheidet sich im Verlauf erheblich von der klassischen CMV-Retinitis (Jacobson 1997, Karavellas 1999). Neovaskularisierungen bedrohen den Visus selbst nach Ausheilung (Wright 2003). Analog zu MAC zeigten auch hier in vitro-Untersuchungen, dass sich die CMV-spezifische Antwort bei jenen Patienten mit Vitritis am stärksten verbessert (Mutimer 2002, Stone 2002). Inflammatorische CMV-Manifestationen beschränken sich nicht auf die Retina, sondern können auch andere Organe betreffen.

PML-IRIS: Die „inflammatorische PML“ im Rahmen eines IRIS unterscheidet sich grundlegend von den infausten Fällen der „prä-HAART-Ära“ (Collazos 1999, Cinque 2001, Miralles 2001). Die Klinik ist oft zunächst fulminanter, und radiologisch sieht man ein PML-untypisches Kontrastmittel-Enhancement, das sich mit der Zeit allmählich zurückbildet. Die Patienten haben eine günstigere Prognose, und die PML scheint sogar auszuheilen (Hoffmann 2003, Du Pasquier 2003). Wir betreuen inzwischen mehrere Patienten mit inflammatorischer PML, die über Jahre beschwerdefrei und teilweise ohne jede Residualsymptomatik leben. Allerdings gibt es auch Berichte von tödlichen inflammatorischen PML-Fällen (Safdar 2002). Steroide bringen nach unserer Erfahrung nichts, es gibt allerdings mehrere Berichte über positive Effekte (Nuttall 2004, Tan 2009).

Kryptokokken-IRIS: Auch für Kryptokokkosen sind zahlreiche inflammatorische Verläufe beschrieben (Übersicht: Haddow 2010). Neben MAC/TBC und CMV sind Kryptokokken wahrscheinlich die wichtigsten IRIS-Erreger. Insbesondere bei schwer immunkompromittierten Patienten, die im Anschluss an eine Kryptokokken-Therapie mit ART beginnen, ist in den ersten Monaten Wachsamkeit geboten. Bei diesen koinfizierten Patienten ist in etwa 20 % mit einem Kryptokokkoken-IRIS zu rechnen (Sungkanuparph 2009, Müller 2010). Im MRT zeigt sich meist eine Choriomeningitis mit einem deutlichen Enhancement in den Plexus choroidei. Das Kryptokokken-Antigen im Liquor ist positiv, die Kultur bleibt jedoch negativ (Boelaert 2004). Der Liquordruck ist oft besonders hoch (Shelburne 2005). Neben Meningitiden kommen auch Lymphadenitiden vor (Skiest 2005).

Andere Infektionen: Auch dazu hält das IRIS-Panoptikum diverse Fallbeispiele parat, so für Leishmaniosen (Jiménez-Expósito 1999), Histoplasmosen (De Lavaissière 2008), Penicilliosen (Ho 2010), Pneumocysten (Barry 2002, Koval 2002, Godoy 2008, Jagannathan 2009, Mori 2009) oder Herpes-Infektionen (Fox 1999). Auch Herpes zoster-Episoden und Schübe von Hepatitis B oder C scheinen unter ART aufzutreten, vor allem in den ersten Wochen (Behrens 2000, Chung 2002, Manegold 2001, Martinez 1998, Domingo 2001). Ein HHV-8-assoziiertes Kaposi-Sarkom kann sich unter ART zunächst deutlich verschlechtern (Bower 2005, Leidner 2005, Feller 2008). Ferner wurde über zunehmende Hautprobleme wie Exazerbationen von Mollusken, Warzen, präexistenten Follikulitiden oder Dermatosen berichtet (Handa 2001, Lehloenyia 2006, Pereira 2007, Iarikov 2008). Sogar zu Parvoviren und Lepra gibt es Berichte (Nolan 2003, Couppie 2004, Bussone 2010, Watanabe 2011).

Andere Erkrankungen: Längst werden dem IRIS nicht mehr nur OI zugeschrieben, sondern auch Autoimmunerkrankungen wie Morbus Basedow, Lupus erythematodes, Sweet- und Reiter-Syndrom, Guillain-Barré-Syndrom, aber auch akute Porphyrie, Gicht oder Sarkoidose, um nur einige zu nennen (Bevilacqua 1999, Behrens 1998, Fox 1999, Gilquin 1998, Makela 2002, Mirmirani 1999, Neumann 2003, Piliero 2003, Sebeny 2010). So wurden sogar zwei Fälle der Peyronie-Krankheit, einer Penisfibromatose (!), berichtet (Rogers 2004). Diese Berichte lassen zumeist jedoch die Frage offen, ob das alles wirklich durch die Immunrekonstitution provoziert wird oder manches nicht bisweilen rein zufällig ist. Während die meisten Arbeiten anfangs noch wenig über hypothetische Überlegungen hinaus zur Ätiologie zu bieten hatten, wurde in letzter Zeit klarer, dass es neben der Aktivierung der zellulären Immunantwort auch Veränderungen des Zytokin-Netzwerkes sind, die in die Pathogenese des IRIS involviert sind – offenbar sind die Mechanismen je nach Erkrankung und genetischem Profil aber unterschiedlich (Price 2001, Shelbourne 2005).

Konsequenzen

Patienten mit weniger als 200 CD4-Zellen/µl (und vor allem jene mit einer gleichzeitig hohen Viruslast) und eine ART beginnen, sollten in den ersten Wochen klinisch aufmerksam beobachtet werden. Wachsamkeit ist gerade bei jenen deutlich immunsupprimierten Patienten geboten, die sehr lange jegliche antiretrovirale Therapie ablehnten, sich jetzt aber körperlich “angeschlagen“ (subfebril?) fühlen und “nach längerer Überlegung“ doch mit ART beginnen möchten. Hier liegt oft bereits eine latente Infektion vor, die sich bei Immunrekonstitution rasch demaskieren wird. Je schlechter der Immunstatus und je länger er schlecht war, desto höher ist die Gefahr eines IRIS. Obwohl neuere Studien belegen, dass Entzündungsparameter wie CRP, D-Dimere oder auch Zytokine wie IL-6 oder IL-7 prädiktiv für ein IRIS bzw. eine OI sind (Rodger 2009, Antonelli 2010, Porter 2010), hat dies noch nicht Eingang in die Routinediagnostik gefunden.

Röntgen-Thorax, Abdomen-Sonographie und Funduskopie sollten dagegen vor ART-Beginn zum Standardprogramm gehören. Die heute gerne vernachlässigte klinische Untersuchung ist ernst zu nehmen. Für problematisch halten wir den Vorschlag einiger Autoren, bei erheblich immunkompromittierten Patienten noch vor ART mit einer MAC-Prophylaxe zu beginnen. Prophylaxen können ein MAC-IRIS nicht verhindern (Phillips 2002+2005). Ob die Gabe von IL-2 oder GM-CSF Sinn macht (Pires 2005), müssen prospektive Studien erst beweisen.

Insbesondere bei Mykobakteriosen sollte dagegen mit Steroiden nicht gespart werden. In einer randomisierten Studie zeigte sich ein deutlicher klinischer Vorteil durch Prednisolon (Meintjes 2010).

In jedem Fall sollte man sich auf untypische Lokalisationen, Befunde und Verläufe der opportunistischen Infektionen einstellen. Die Prognose des IRIS ist generell gut, die Mortalität ist nicht höher als bei Patienten ohne IRIS (Park 2006).

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