– Christian Hoffmann –
Unter dem klassischen Wasting-Syndrom versteht man eine ungewollte Gewichtsabnahme von mindestens 10 % des ursprünglichen Körpergewichts, die gleichzeitig mit persistierenden Diarrhoen (mindestens zwei Stuhlgänge pro Tag für mehr als 30 Tage) oder Abgeschlagenheit und/oder Fieber ohne erkennbare infektiöse Ursache auftritt. Das Wasting-Syndrom ist damit eine Ausschlussdiagnose und eher ein epidemiologisches Instrument als eine spezifische Erkrankung – wenn intensiv und kompetent gesucht wird, findet man meistens einen spezifischen Erreger. Früher in jeder HIV-Ambulanz ein alltägliches Bild, ist das klassische Wasting-Syndrom in Europa und den USA selten geworden. In einer großen Studie aus dem Jahr 2000 gaben allerdings noch immerhin 14 % der Patienten an, mehr als 10 % ihres ursprünglichen Körpergewichts verloren zu haben (Wanke 2000). Bei Konsumenten intravenöser Drogen sind die Raten noch höher (Campa 2005). Gewichtsverlust bleibt auch heute ein unabhängiger Mortalitätsfaktor, und jeder Patient gehört regelmäßig auf die Waage! In einer großen Studie lag das Mortalitätsrisiko bei Patienten, die mehr als 10 % des Körpergewichts verloren hatten, um das 4-6-fache über den von Patienten mit stabilem Gewicht (Tang 2002). Die Patienten mit klassischem Wasting-Syndrom sind oft sehr geschwächt. Ihr Risiko, opportunistische Infektionen zu erleiden, ist deutlich erhöht (Dworkin 2003). Auch die kognitiven Fähigkeiten der Patienten sind vermindert (Dolan 2003).
Diagnostik
Die Ursachen des Wasting-Syndroms sind komplex. Zunächst sollten opportunistische Infektionen (TBC, MAC, Krypto- und Mikrosporidien) ausgeschlossen bzw. behandelt werden. Ist nichts zu finden, bleiben immer noch so unterschiedliche Gründe wie metabolische Störungen, Hypogonadismus, Mangelernährung und Malabsorptionssyndrome (Übersicht: Grinspoon 2003), die natürlich auch kombiniert zum Wasting-Syndrom beitragen können.
Am Anfang steht deshalb die Anamnese. Ernährt sich der Patient vernünftig? Was wird wann über den Tag gegessen? Besteht eine Depression? Welche Medikamente, welche ART wird eingenommen? Oft bestehen fließende Übergänge zur antiretroviral induzierten Lipoatrophie (D4T? DDI?). Unter Interferon ist ein starker Gewichtsverlust ebenfalls häufig (Garcia-Benayas 2002). Er bildet sich nach Beendigung der Therapie jedoch rasch wieder zurück. Als nächstes sollte ein Hypogonadismus ausgeschlossen werden (Messung von Testosteron). Für die Malabsorptionssyndrome stehen verschiedene einfache Untersuchungen zur Verfügung. Fürs Erste macht es Sinn, Albumin, TSH und Cholesterin zu bestimmen.
Weitere Tests wie D-Xylose-Absorptionstest oder Dünndarmbiopsien sollten nur in Absprache mit Gastroenterologen unternommen werden. Auch die diversen Tests zur Bestimmung der Körperzusammensetzung (DEXA, Densitrometrie, bioelektrische Impedanzanalyse) sollten nur in Zentren angewendet werden, in denen Erfahrungen mit Wasting-Syndrom bei AIDS-Patienten bestehen.
Therapie
Wasting-Syndrome sind ein Fall für eine kompetente Ernährungsberatung. Bewegung bzw. Sport ist, wenn möglich, ebenfalls sinnvoll. Beides ist allerdings nur in Grenzen erfolgreich. Eine unterstützende parenterale Ernährung hilft nur bei Resorptionsstörungen (Kotler 1990, Melchior 1996). Wichtig ist eine ART, die möglichst auf AZT, D4T und DDI, eventuell sogar ganz auf Nukleosidanaloga verzichtet (siehe Kapitel Nuke-Sparing).
Darüber hinaus sind viele medikamentöse Therapien versucht worden. Sie sind jedoch nur begrenzt erfolgreich und oft problematisch.
Megestrolacetat, ein synthetisches Gestagen, das in Deutschland als Megestat® bei fortgeschrittenem Mamma-Karzinom zugelassen ist, hat durch seinen appetitstimulierenden Effekt auch einen Benefit beim Wasting-Syndrom (Von Roenn 1994, Mulligan 2006). Wesentliche Probleme sind Steroid-typische Nebenwirkungen, zu denen unter anderem auch ein Hypogonadismus zählt – etwas, was man beim Wasting-Syndrom eigentlich unbedingt verhindern will und was durch die gleichzeitige Testosterongabe nicht unbedingt besser wird (Mulligan 2006). Wir halten den Einsatz dieser Substanz daher derzeit nicht für sinnvoll.
Was ist mit THC (Dronabinol)? Dronabinol, der Hauptwirkstoff von Marihuana, ist seit 1998 in Deutschland als Betäubungsmittel zugelassen. Allerdings gibt es kein zugelassenes Arzneimittel mit diesem Wirkstoff, so dass Dronabinol entweder als Import (seit 1985 in den USA als Marinol™ erhältlich) oder als Rezeptursubstanz zur Herstellung von Tropfen oder Hartgelatinekapseln verschrieben werden muss. Die Substanz übt sicherlich einen gewissen Reiz auf manche Patienten aus und wird zuweilen von einigen auch energisch eingefordert. Man tut gut daran, sich die Verschreibung auch angesichts der Kosten (in der üblichen Dosis von 3 x 5 mg/die ca. 600 Euro pro Monat) gut zu überlegen. Ohne ein eindeutiges Wasting-Syndrom wird man nämlich erhebliche Probleme mit der Krankenkasse bekommen (vorher kontaktieren!). Einige Krankenkassen lehnen die Erstattung generell ab. Abgesehen davon ist der Effekt auf Wasting-Syndrome allenfalls mäßig, wenn überhaupt einer nachweisbar ist (Beal 1995). Die Effekte sind wahrscheinlich noch schwächer als durch Megestrolacetat (Timpone 1997). Hergestellt wird THC in Deutschland durch die Firma THC Pharm. Der Grund für den hohen Preis liegt in dem aufwendigen Herstellungsprozess – THC muss aus juristisch korrektem Faserhanf extrahiert werden, weitere Infos dazu unter http://www.thc-pharm.de. Wir haben in den letzten Jahren keine THC-Rezepte mehr ausgestellt.
Hypogonadismus ist ein häufiges Problem bei Patienten mit Wasting-Syndrom. Es macht daher Sinn, die Testosteron-Spiegel (altersabhängig!) zu bestimmen. Wenn diese niedrig sind, ist eine Testosteron-Substitution wirksam, sowohl was Gewichtszunahme als auch Lebensqualität angeht (Grinspoon 1998). Gegeben wird Testosteron in der Dosis von 250 mg i.m. alle 3-4 Wochen, es gibt eine Reihe preiswerter Generika. Der Effekt hält auch bei Langzeitanwendung an (Grinspoon 1999). Bei normalem Testosteron-Spiegel macht eine Substitution bei Wasting-Syndrom keinen Sinn. Bei Frauen sollte man mit Androgenen zurückhaltend sein. Neben Testosteron existieren noch einige andere anabole Steroide, wie zum Beispiel Oxandrolon oder Nandrolon. Sie sind möglicherweise etwas effektiver als Testosteron (Gold 2006, Sardar 2010), aber wahrscheinlich mit mehr Nebenwirkungen belastet, die vor allem die Leber betreffen (Corcoran 1999). Positive Effekte wurden auch für das anabole Steroid Oxymetholon berichtet (Hengge 2003), bei dem allerdings teilweise erhebliche Transaminasen-Erhöhungen beobachtet werden.
Nebenwirkungen und Kosten begrenzen auch den Einsatz von Wachstumshormonen, über deren Konsequenzen bei Langzeitanwendung zudem noch nichts bekannt ist (Mulligan 1993, Schambelan 1996). Einer Metaanalyse zufolge gibt es allerdings Hinweise, dass Wachstumshormone beim Wasting-Syndrom effektiver sind als anabole Steroide bzw. Testosteron (Moyle 2004). Wesentliche Nebenwirkungen sind Glukose-Erhöhungen, Arthralgien, Myalgien und periphere Ödeme, die jedoch auf Absetzen oder Dosisreduktionen ansprechen (Review: Gelato 2007).
Literatur
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